Gut Luft!“
Wie sie sich denken können, waren deren Übersetzungskünste aufgrund des fehlenden Vokabulars erfolglos. Ganz abgesehen davon, dass die gute Frau Worte wie Sauerstoffpartialdruck, Residualvolumen und Abdominaldichtungsstutzen nicht einmal in griechischer Sprache konnte. So beantwortete ich die Fragen in der mündlichen Prüfung, indem ich einzelne Verse aus Schillers Glocke deutsch rezitierte.
Ich bestand die theoretische Prüfung ohne Probleme und mit der Bestnote, was mich in der Folge berechtigte, die ersten praktischen Übungen im Hotelpool zu absolvieren. Es muss sehr lustig gewesen sein. Jedes Mal wenn ich auftauchte, klatschten die Zuschauer Beifall und verlangten Zugaben.
Auch diesen Test bestand ich bravourös und so durfte ich zum ersten Mal ins richtige Meer. Aus einem wackelnden Gummiboot liess ich mich rückwärts ins Wasser platschen, verlor prompt meine Gesichtsmaske und stellte fest, dass ich nur eine Flosse anhatte und den Bleigurt an Bord vergessen hatte. Also wieder rein ins Boot und alles noch einmal von vorne. Diesmal klappte es schon viel besser und ich tauchte vorschriftsgemäss ab.
Plötzlich jedoch war Vassilios nicht mehr zu sehen. Der Blödmann hatte mir doch eben noch erklärt, dass man nicht allein tauchen dürfe. Ich hatte jedoch keine Zeit mehr, mir darüber Gedanken zu machen, da mir gleichzeitig jemand die Luft zudrehte und die Gesichtsmaske wegriss. Etwas verschwommen sah ich ein Gesicht vor mir, dass ich aufgrund des grossen Schnauzes Vassilios zuordnete. In diesem Moment erinnerte ich mich an das morgendliche „Gut Luft!“, versetzte ihm einen Kinnhaken und entriss ihm seinen Lungenautomaten. Arm in Arm tauchten wir auf: Auch diese Prüfung bestand ich mit Bestnote.
Am Abend kam es zur Preisverleihung am Brunnen vor dem grossen Tor. Die ganze Hotelbevölkerung jubelte mir zu, die Bouzoukis zupften eine kleine Wassermusik und Vassilios tanzte wie weiland der alte Zorbas. Nach unzähligen Rakis, Ouzos und andern geistigen Wässern erhielt ich bei Sonnenaufgang das begehrte Stück Papier. Endlich war ich Taucher! Und Vassilios war sichtlich froh, dass wieder einmal ein Schüler überlebt hatte. Ich aber marschierte ins nächste Reisebüro und buchte meinen ersten Tauchurlaub.
Wir
sitzen unter einer grossen Palme vor dem Flughafengebäude von Grand Cayman und warten
auf den Anschlussflug nach Cayman Brac. Es ist heiss und feucht, die
Langsamkeit hat das Leben übernommen. Der Sekundenzeiger meiner Uhr scheint
sich kaum mehr zu bewegen. Fliegen fallen antriebslos zu Boden, die wenigen
sichtbaren Menschen bewegen sich in Zeitlupe. Ein Getränkeautomat verspricht
kalte Getränke, denkt aber nicht daran, diese von sich zu geben.
Ich
denke über die Langeweile nach. Der Philosoph Blaise Pascal meinte dazu: „Nichts
ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu
befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne
Beschäftigung. () Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele die Langeweile
aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die
Verzweiflung.“ So schlimm wird es jedoch nicht, nach wenigen Stunden hebt unser Flieger ab und bringt uns auf die Insel Cayman Brac. Hier werde ich träumen, tauchen und ab und zu mal was trinken. Ein Minibus bringt uns und andere Reisende zum Hotel. Mit dabei auch ein rothaariger, bleicher und etwas magersüchtiger Europäer. Er trägt einen schlecht sitzenden Anzug, Krawatte, Schuhe in Übergrösse und schwitzt nicht. Während der Fahrt unterrichtet er die Mitreisenden freiwillig über Geschichte und Kultur dieses Eilandes. Dabei schien es ihn nicht zu stören, dass die meisten bereits eingeschlafen waren.
„Der ist sicher Geschichtslehrer“, flüstert mir meine Frau zu.
„Nein“, entgegne ich. „Dieser Heini ist Liftboy bei Harrods und hat die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen. Briten tun immer so wichtig!“
Wir
verbringen wunderbare Tage und laute Nächte. Leider sind es keine Nachtigallen,
die durch unsere Träume fliegen, sondern deutlich grössere Vögel. Da die Insel
genau so lang ist wie die Piste, liegen auch alle Hotels genau neben der Piste.
Pünktlich um drei Uhr nachts landet eine Maschine aus New York. Bis zu deren
Abflug vergehen 40 Minuten. Es lohnt sich also kaum, sich dazwischen wieder ins
Bett zu legen.
Den
Liftboy sehen wir Gott sei Dank kaum. Aus unbekannten Gründen schliessen sich
nämlich Alleinreisende immer wieder gerne uns an. Wir aber wollen nur träumen,
tauchen und ab und zu mal was trinken.Bei einem Tauchgang aber kann ich nicht mehr ausweichen und stosse mit ihm zusammen. Ich bin unterwegs zum vorgelagerten Riff, als er plötzlich wie ein Torpedo von links angeschossen kommt und mich rammt. Er macht entschuldigende Zeichen, zeigt auf Tauchcomputer und Kompass.
Der Liftboy bedeutet mir, ihm zu folgen, was ich gerne tat, da ich mich mit Bussolen immer schwer tue. Sein Tempo aber war atemberaubend, noch nie hatte ich jemanden erlebt, der sich derart wendig, sicher und präzise bewegen konnte. Dieser Geschichtslehrer war garantiert kein Liftboy! Und schon gar nicht bei Harrods.
Ob er vielleicht Mitglied der königlichen Kampftaucher war? Obwohl: Die meisten Kampftaucher sprechen deutsch, stammen aus Preussen und sind paramilitärisch organisiert: Schon vor dem Frühstück gibt’s ein gemeinsames Frühturnen, anschliessend Strammstehen und Ansage des Tagesbefehls. Abmarsch in das Frühstückscasino, strammer Max, Wurst, manchmal Käsescheibletten. Um 08.00 Uhr wird in Einerreihe eingestanden und durchgezählt. Pünktlich und nicht ohne ein martialisches „Gut Luft“ stürzen sie sich ins Wasser. Sollte diese Unterwassersturmtruppe über oder unter Wasser einem nicht preussischen Objekt begegnen, wird dieses im besten Fall ignoriert. Im zweitbesten Fall wird es unter Einsatz der Flossen – die zu diesem Zweck mit rostfreien Stahlkappen ausgestattet sind – vom Weg gedrängelt. Im schlimmsten Fall entledigt man sich des Eindringlings, indem man ihm die Schläuche durchschneidet, das Blei abreisst, die Tarierwest aufschlitzt, die Maske wegnimmt und die Flossen auszieht. Nein, dieser Liftboy war kein Kampftaucher!
Heute
nun reist der Lift fahrende Kampftaucher und Geschichtslehrer ab. Artig
verabschiedet er sich mit einem angedeuteten Knicks. Er trägt einen schlecht sitzenden
Anzug, Krawatte sowie Schuhe in Übergröße. Er schwitzt nicht, als er uns seine
Visitenkarte überreicht.
John
W. M., Chefpilot, British Airways.
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