Donnerstag, Februar 27, 2014

Dekantiert

Ich sitze im Rössli und lese in einer, ansonsten durchaus seriösen Zeitung, ernst gemeinte Anweisungen, welche Weine denn wann und wie und überhaupt dekantiert werden sollen. Damit ist das Umfüllen einer Flasche Wein in eine Karaffe gemeint; der Wein soll dadurch von unerwünschtem Bodensatz befreit werden. Da heutige Tropfen nur noch in Ausnahmefällen über solche Rückstände verfügen, handelt es sich um eine weitgehend sinnlose Angelegenheit.Im önologischen Erguss ging es um geheimnisvolle, moosbewachsene Weinflaschen und um den Einfluss des Kerzenlichts auf den durch den Flaschenhals rinnenden Wein. Sofort fühlte ich mich in die geheimnisvolle Atmosphäre eines uralten Weinkellers versetzt. Ich sah die knorrigen, zittrigen Hände eines Buckligen vor mir. Und ich sah wie der Alte, etwas hilflos und nur noch auf einem Auge sehend, zwei Feuersteine zusammenschlug. Doch kein Funke sprang über und die einsame Kerze sah den Alten traurig an. Die Verzweiflung stand ihm in sein runzliges Gesicht geschrieben. Langsam und unendlich vorsichtig drehte er sich um. Würde er mit seinen gelebten Händen je wieder das göttliche Feuer entfachen können mit denen er die handgeschöpfte Kerze zum brennenden Leben erwecken könnte? Würde je wieder samtener Wein durch den, vom flackernden Lichte erhellten, zierlichen Flaschenhals fliessen? Wäre er zu einem Leben ohne Wein verdammt, in Dunkelheit und erst noch in alle Ewigkeit?
Als ich aus meinem Albtraum erwache, steht ein Kellner mit einer offensichtlich von mir bestellten Flasche Beaujolais in meinem Blickfeld. Er deutet auf eine Karaffe – diese erinnert mich allzu deutlich an meinen letzten Besuch beim Urologen – und schwadroniert französisch daher. Ich befürchte das Schlimmste – gar ein Ausschankritual napoleonischen Ausmasses! – und entreisse ihm die Flasche. Obwohl ich nie im Leben Beaujolais bestellt habe, lasse ich den Wein in den dargebotenen Kelch fliessen und trinke ihn sofort leer. Nichts ist schlimmer als Durst!



Alle Angaben zu meinen Büchern finden Sie hier: www.gsellschreibt.blogspot.com



























Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.