Das Wort „Hai“ löst ja bei vielen Menschen
ein unwohles Kribbeln in der Magengegend aus. Sofort findet unsere geistige Festplatte
die passenden Geräusche aus dem Weissen
Hai – schhrrriip – schrrrriip, schnappp. Spätestens seit diesem Film wissen
wir, dass Haie fürchterliche, blutrünstige Bestien sind. Sie bestehen im
Wesentlichen aus einer Rückenflosse, die neckisch aus dem Meer lugt und einem
Kiefer mit Tausenden von Zähnen. Für jeden Dentisten die Herausforderung seines
Lebens!
Dag Svensson, der
alte Schwede, hatte sich wirklich sorgfältig auf seinen ersten Tauchgang
vorbereitet und beschloss, erstmals in seinem Leben einem richtigen Hai zu
begegnen. So hatte er sich jedes verfügbare Fachbuch besorgt, las besorgniserregende
Berichte über menschenfressende Bestien und beschäftigte sich ausführlich mit
wissenschaftlichen Studien über deren Angriffslustigkeit.
Mit Erleichterung
stellte er fest, dass nur wenige der über 350 Arten zu den potenziellen
Menschenfressern gehören. Der Erleichterung folgte jedoch die Sorge darüber, ob
die Haie denn auch über das gleiche Wissen verfügen.
Dag prägte sich
die farbigen Abbildungen gründlich ein und beschäftigte sich wochenlang mit dem
Themenschwerpunkt: „Wie verhalte ich mich, wenn ich einem Hai begegne.“
Beim Einschlafen zählte er fortan farbige
Fischlein und stellte sich bildlich vor, wie seine erste Begegnung mit der Bestie
der Meere verlaufen würde.
Es war ein Tag
wie jeder andere. Gemütlich schwamm Dag zwischen Steinkorallen umher und bewunderte
Nacktschnecken und andere Schleimer, als er das Grauen erblickte.
Der schwimmende
Kiefer raste direkt auf ihn zu, bleckte seine 850 Zähne und starrte ihn aus kalten
Augen an. Dag versucht sich an die Anweisungen im Handbuch zu erinnern. Da ihm
dies nicht gelang, wechselte er gekonnt das Thema, dachte an die letzte
Zahnarztrechnung und freute sich daran nur 32 Zähne zu haben.
Als er sich
wieder dem Hai zuwenden wollte, war dieser längst verschwunden. Dag war wütend
und masslos enttäuscht. Dieser arrogante Hühnerdieb hatte ihn überhaupt nicht
zur Kenntnis genommen! Er hatte ihn einfach ignoriert und nicht einmal mit
einer imaginären Wimper gezuckt. Was Dag nicht wusste: Der Kiefer hatte sich
angesichts des in Neopren gekleideten Tauchers totgelacht und lag bereits als
Wasserleiche hinter dem nächsten Riff.
Dag hatte mit der
Zeit gelernt, die Haie zu ignorieren. Es gab wesentlich unangenehmere Zeitgenossen!
So erdreistete sich unlängst eine Muräne, ihn in die linke Arschbacke zu
beissen. Aber er hatte – obwohl er mehrmals von angeblich giftigen Bissen gewarnt
worden war – auch diese Begegnung überlebt.
Der
Vollständigkeit halber sei gesagt, dass er dem armen Vieh den Ausgang aus
dessen Höhlenwohnung verdeckt hatte. Als nun das allerherzigste Muränlein sein
Appartement verlassen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als tüchtig rein
zu beissen. Infolge seines kleines Kiefers und der Grösse des Objekts seiner
Begierde erwies sich der Biss jedoch vergleichsweise harmlos. Allerdings gab
das Resultat der Muräne recht: Dag änderte seine Position, zog sich gegen
rechts und hielt sich mit der Linken an einem Korallenstock fest.
Dieses Ansinnen
gefiel jedoch der Besitzerin der dortigen Attikawohnung nicht: Muräne Nr. 2
biss Dag herzhaft in den Ellenbogen und hinterliess zwei stecknadelgrosse Einstiche.
Dag entschied sich die unwirtliche Gegend zu verlassen und schwamm gemächlich weiter.
Plötzlich wurde
es dunkel: Ein Tintenfisch ansehnlicher Grösse hatte sich mitten auf seine
Taucherbrille gesetzt und sich dort mit allen acht Füssen festgesaugt. Er hatte
im spiegelnden Glas eine potenzielle Octopussy
entdeckt und versuchte mit ihr anzubandeln. Dag wollte den beiden
Turtelfüsslern diese Freude nicht verweigern, setzte sich auf den nächsten Stein
und tat, was er am besten konnte: Er wartete ab.
Und während er so
vor sich hin wartete, spürte er, wie er angeknabbert wurde. Nicht die Liebenden
auf seiner Taucherbrille waren es, die ihm kleine Fleischstücke aus seinen
Armen rissen, sondern herzige, kleine Fische. Mit dem Mut der Verzweiflung oder
der puren Lust an Menschenfleisch bissen sie an Dag herum. Dies aber wollte
sich unser tapferer Schwede nun wirklich nicht gefallen lassen. Er verscheuchte
die ganze Brut und wandte sich wieder den schönen Dingen des Lebens zu.
Er hatte nicht
mit Aristoteles dem alten Barrakuda gerechnet! Sofort versuchte er sich an die
Worte von Vater Gutgenug zu erinnern. Und obwohl er wusste, dass dieser im
Grossen und Ganzen davon lebte, seinen Schäfchen Märchen aufzutischen, blieb Dag
nichts anderes übrig, als auf die göttlichen Regeln zu vertrauen.
Regel Nr. 1: Grosse
Barrakudas sind sehr gefährlich! Diese „Silberschuppen“ sind Einzelgänger und
greifen jeden noch so geschmackslosen Taucher sofort an. Kleine Barrakudas hingegen
treten meistens im Schwarm auf und sind gutartig wie eine Herde Suppenhühner.
Regel Nr. 2:
Kleine Barrakudas im Schwarm sind sehr gefährlich und greifen jeden noch so
geschmackslosen Taucher sofort an. Ein grosser Barrakuda hingegen ist gutartig
wie ein altes Suppenhuhn.
Regel Nr. 3:
Bestimme nun die Grösse des hinter dir herschwimmenden Barrakudas und wende
wahlweise Regel Nr. 1 oder Nr. 2 an.
P.S. Den Namen Aristoteles erhielt der
alte Barrakuda von der Schweizerin Gertrud Aenishänsli aus Finsterhennen. Sie
hatte ein Preisausschreiben der Firma Goldfischli
gewonnen und durfte erstmals in ihrem Leben einen Fisch taufen. Herzliche
Gratulation!
Aus dem Buch IKEFANG UND GUTGENUG
Hanspeter Gsell,
Verlag Bod
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