Mittwoch, Oktober 03, 2018

Ulithi - Hai-Land?



Das Wort „Hai“ löst ja bei vielen Menschen ein unwohles Kribbeln in der Magengegend aus. Sofort findet unsere geistige Festplatte die passenden Geräusche aus dem Weissen Hai – schhrrriip – schrrrriip, schnappp. Spätestens seit diesem Film wissen wir, dass Haie fürchterliche, blutrünstige Bestien sind. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer Rückenflosse, die neckisch aus dem Meer lugt und einem Kiefer mit Tausenden von Zähnen. Für jeden Dentisten die Herausforderung seines Lebens!
Dag Svensson, der alte Schwede, hatte sich wirklich sorgfältig auf seinen ersten Tauchgang vorbereitet und beschloss, erstmals in seinem Leben einem richtigen Hai zu begegnen. So hatte er sich jedes verfügbare Fachbuch besorgt, las besorgniserregende Berichte über menschenfressende Bestien und beschäftigte sich ausführlich mit wissenschaftlichen Studien über deren Angriffslustigkeit.
Mit Erleichterung stellte er fest, dass nur wenige der über 350 Arten zu den potenziellen Menschenfressern gehören. Der Erleichterung folgte jedoch die Sorge darüber, ob die Haie denn auch über das gleiche Wissen verfügen.
Dag prägte sich die farbigen Abbildungen gründlich ein und beschäftigte sich wochenlang mit dem Themenschwerpunkt: „Wie verhalte ich mich, wenn ich einem Hai begegne.“
 Beim Einschlafen zählte er fortan farbige Fischlein und stellte sich bildlich vor, wie seine erste Begegnung mit der Bestie der Meere verlaufen würde.
Es war ein Tag wie jeder andere. Gemütlich schwamm Dag zwischen Steinkorallen umher und bewunderte Nacktschnecken und andere Schleimer, als er das Grauen erblickte.
Der schwimmende Kiefer raste direkt auf ihn zu, bleckte seine 850 Zähne und starrte ihn aus kalten Augen an. Dag versucht sich an die Anweisungen im Handbuch zu erinnern. Da ihm dies nicht gelang, wechselte er gekonnt das Thema, dachte an die letzte Zahnarztrechnung und freute sich daran nur 32 Zähne zu haben.
Als er sich wieder dem Hai zuwenden wollte, war dieser längst verschwunden. Dag war wütend und masslos enttäuscht. Dieser arrogante Hühnerdieb hatte ihn überhaupt nicht zur Kenntnis genommen! Er hatte ihn einfach ignoriert und nicht einmal mit einer imaginären Wimper gezuckt. Was Dag nicht wusste: Der Kiefer hatte sich angesichts des in Neopren gekleideten Tauchers totgelacht und lag bereits als Wasserleiche hinter dem nächsten Riff.
Dag hatte mit der Zeit gelernt, die Haie zu ignorieren. Es gab wesentlich unangenehmere Zeitgenossen! So erdreistete sich unlängst eine Muräne, ihn in die linke Arschbacke zu beissen. Aber er hatte – obwohl er mehrmals von angeblich giftigen Bissen gewarnt worden war – auch diese Begegnung überlebt.
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass er dem armen Vieh den Ausgang aus dessen Höhlenwohnung verdeckt hatte. Als nun das allerherzigste Muränlein sein Appartement verlassen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als tüchtig rein zu beissen. Infolge seines kleines Kiefers und der Grösse des Objekts seiner Begierde erwies sich der Biss jedoch vergleichsweise harmlos. Allerdings gab das Resultat der Muräne recht: Dag änderte seine Position, zog sich gegen rechts und hielt sich mit der Linken an einem Korallenstock fest.
Dieses Ansinnen gefiel jedoch der Besitzerin der dortigen Attikawohnung nicht: Muräne Nr. 2 biss Dag herzhaft in den Ellenbogen und hinterliess zwei stecknadelgrosse Einstiche. Dag entschied sich die unwirtliche Gegend zu verlassen und schwamm gemächlich weiter.
Plötzlich wurde es dunkel: Ein Tintenfisch ansehnlicher Grösse hatte sich mitten auf seine Taucherbrille gesetzt und sich dort mit allen acht Füssen festgesaugt. Er hatte im spiegelnden Glas eine potenzielle Octopussy entdeckt und versuchte mit ihr anzubandeln. Dag wollte den beiden Turtelfüsslern diese Freude nicht verweigern, setzte sich auf den nächsten Stein und tat, was er am besten konnte: Er wartete ab.
Und während er so vor sich hin wartete, spürte er, wie er angeknabbert wurde. Nicht die Liebenden auf seiner Taucherbrille waren es, die ihm kleine Fleischstücke aus seinen Armen rissen, sondern herzige, kleine Fische. Mit dem Mut der Verzweiflung oder der puren Lust an Menschenfleisch bissen sie an Dag herum. Dies aber wollte sich unser tapferer Schwede nun wirklich nicht gefallen lassen. Er verscheuchte die ganze Brut und wandte sich wieder den schönen Dingen des Lebens zu.
Er hatte nicht mit Aristoteles dem alten Barrakuda gerechnet! Sofort versuchte er sich an die Worte von Vater Gutgenug zu erinnern. Und obwohl er wusste, dass dieser im Grossen und Ganzen davon lebte, seinen Schäfchen Märchen aufzutischen, blieb Dag nichts anderes übrig, als auf die göttlichen Regeln zu vertrauen.
Regel Nr. 1: Grosse Barrakudas sind sehr gefährlich! Diese „Silberschuppen“ sind Einzelgänger und greifen jeden noch so geschmackslosen Taucher sofort an. Kleine Barrakudas hingegen treten meistens im Schwarm auf und sind gutartig wie eine Herde Suppenhühner.
Regel Nr. 2: Kleine Barrakudas im Schwarm sind sehr gefährlich und greifen jeden noch so geschmackslosen Taucher sofort an. Ein grosser Barrakuda hingegen ist gutartig wie ein altes Suppenhuhn.
Regel Nr. 3: Bestimme nun die Grösse des hinter dir herschwimmenden Barrakudas und wende wahlweise Regel Nr. 1 oder Nr. 2  an.

P.S. Den Namen Aristoteles erhielt der alte Barrakuda von der Schweizerin Gertrud Aenishänsli aus Finsterhennen. Sie hatte ein Preisausschreiben der Firma Goldfischli gewonnen und durfte erstmals in ihrem Leben einen Fisch taufen. Herzliche Gratulation!

Aus dem Buch IKEFANG UND GUTGENUG 
Hanspeter Gsell, 
Verlag Bod




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