Dienstag, Juni 05, 2018

Canossa



Interessierten mich auf meinen frühen Reisen nach Italien vor allem die Winzer und ihre Weine, kamen über die Jahre neue Sachgebiete dazu. Ich begann mich mit der lokalen Geschichte, aber auch mit Geschichten und Sagen vertraut zu machen. In Italien stösst man bekanntlich hinter jeder Ruine, um nicht zu sagen hinter jedem Olivenbaum, auf «Geschichte». Das ist soweit ganz schön. Ausser man ist Besitzer eines Hügels und möchte dort einen neuen Weinkeller bauen. Natürliche ahnt man, dass unter einer dünnen Schicht Humus allerhand Wertvolles oder zumindest Kurioses verborgen sein könnte.


Nehmen wir die fiktive Ortschaft Paveggio in den Hügeln des Oltrepò Pavese. Die ersten Bewohner waren wohl Gallier. Eines Tages waren die Römer da und fochten ganz in der Nähe wilde Schlachten. Etwas später soll ein gewisser Hannibal vorbeigezogen sein. Keine Ahnung ob mit oder ohne Elefanten; auch diese Wandergruppe liess jede Menge Abfälle in und um Paveggio liegen. Das war Littering vom Feinsten!

Das Dorf war im 5. Jahrhundert das letzte Bollwerk der Ostgoten gegen die Oströmer. Nach der Eroberung durch die Langobarden, wurde Paveggio zu einem wichtigen Handelsplatz ausgebaut. Zwei Jahrhunderte später war es Karl der Grosse, der unser Dorf einnahm. Wieder etwas später sah man Heinrich II., Otto III. und Konrad I. vor den Toren stehen. Anfangs des 19. Jahrhunderts schlugen die Truppen Napoleons die Österreicher. Fünfzig Jahre später wurden letztere vor den Toren der kleinen Stadt von den Franzosen, verstärkt mit Soldaten aus dem Piemont, geschlagen. Wie sie sehen: Da blieb einiges liegen in der Gegend um Paveggio.

Und so hat der Bauherr des Weinkellers auf dem kleinen Hügel in der Nähe von Paveggio den Aushub heimlich und in der Nacht vorangetrieben. Sollte man zufälligerweise und höchstwahrscheinlich auf altes Zeugs treffen, könnte man die Sache kurz vor Anbruch des Tages von einem Bulldozer wieder bedecken lassen. Denn auch in Italien ist der Denkmalschutz unerbittlich und kann einen Bauherrn kurzerhand in den Ruin treiben.

Als ich neben Daniele stand und zuschaute, wie der Schaufelbagger auch noch die letzten Tonscherben wieder eingrub, erzählte er mir die Geschichte von Canossa.

Heinrich IV. aus dem Geschlecht der Salier war römischer Kaiser von 1084 bis 1105, und er hatte, wie man heute wohl sagen würde, Stress mit Papst Gregor VII. Dieser hatte ihn nämlich kurzerhand wegen ein paar Lappalien exkommuniziert, das heisst zur Kirche rausgeworfen.
Man vereinbarte ein klärendes Gespräch und traf sich auf halben Weg bei Mathilde von Canossa. Nicht dass sich diese um ein solches Treffen bemüht hätte. Aber wer hatte schon die Möglichkeit, gleichzeitig Papst und Kaiser in den eigenen Gemächern zu beherbergen!
Zudem hatte man von ihrer Burg, auf einem Hügel in der Nähe des heutige Reggio Emilia gelegen, einen guten Überblick über die Po-Ebene.
Im Winter 1076/1077 soll es gewesen sein, als Mathilde auf dem steilen Weg zur Burg einen bärtigen Wanderer entdeckte. Es war eisig-kalt, der Wind heulte grausig durch die Hügel.

«Herr Papst, ich glaube, der Heiri ist im Anmarsch! Solle’ mir ihn reinlasse’?», fragte Mathilde.
«Nein. Man lasse den Heiri noch warten.»

Und so liess man den Kaiser drei Tage warten. Kurz bevor er erfroren war, das Protokoll hatte nämlich nur ein einfaches Büssergewand vorgesehen, rief man ihn in die Burg. Keuchend und mit blauen Händen zog er sich die steile Treppe hinauf.
Nach einigem Zögern entschloss sich Gregor, das Tor zu öffnen. Heinrich warf sich zu Boden, Gregor sprach seinen Segen, erlöste Heinrich vom Bann und nahm den reuigen Sünder wieder in die Kirche auf: Die Sage vom «Gang nach Canossa» war geboren.

Ob man während des ungemütlichen Beisammenseins ein Glas Lambrusco, von diesem herrlich-süssen, roten Prickler gesüffelt hat, ist nicht überliefert. Vielleicht hatte Heiri diesen Wein noch aus seinen letzten Campingferien in Rimini in Erinnerung und vorsorglich ein paar Flaschen Rheinwein mitgenommen.






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