Samstag, Juni 16, 2018

Haarige Geschichten

Aus dem Buch Hühnerbrust und Federkiel 
Hanspeter Gsell, Verlag BoD


Ich gebe es gerne zu: In jungen Jahren war mir der Coiffeur-Besuch immer ein Graus. Vielleicht lag es daran, dass ich mir auf dem schwarzen Stuhl immer die neusten Gruselgeschichten aus dem Koreakrieg anhören musste. Vater Stähli war ein begnadeter Erzähler und Schauspieler. Wenn nötig, konnte er den Angriff auf einen Nordkoreaner auch lebensecht nachstellen. Dazu warf er sich hinter die kleine Kommode mit den farbigen Shampoo-Flaschen, schaute durch das imaginäre Visier seiner Schere und feuerte durch das Schaufenster auf die Bäckertochter, die eben ihr Gesicht an der Scheibe platt drückte.


Diese Vorstellung, samt Haarschnitt mit dem dröhnenden Rasierer, kostete 50 Rappen, und ein Sugus gab es auch noch dazu. Der Nachfolger von Stähli hiess so ähnlich wie „Hitler“, was ihn auch nicht sympathischer machte; sein Kaffee war miserabel. Abgesehen davon, war der Haarschnitt in jenen Tagen nicht freiwillig, sondern eine elterliche Massnahme gegen die beginnende Verwahrlosung der Sitten.


Mein nächster prägender Kontakt mit einem Coiffeur erfolgte in den 70er-Jahren in der Stadt Basel. Er war klein, grau und schwatzhaft; sein Kaffee war miserabel. Nach kurzer Inspektion meiner Lockenpracht führte er seine Schere Richtung Ohr und entfernte mir gekonnt einen Teil meines rechten Ohrläppchens. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass er die blutende Wunde fachmännisch versorgte. Da der besagte Schnitter nicht mehr unter uns weilt, werde ich seinen Namen natürlich nicht preisgeben.
Obwohl ich dem Täter keinen Vorsatz nachweisen konnte, wechselte ich trotzdem zu einem anderen Coiffeur. Dieser war jedoch offensichtlich von seinem Kollegen informiert worden. Nach einem schlechten Kaffee und wenigen Schnitten versuchte er, mich mittels eines gezielten Stiches in meinen Hals zu ermorden. Das Vorhaben misslang kläglich.


Seither ist natürlich alles anders geworden. Ich gehe wieder gerne zum Coiffeur und geniesse die entspannenden Momente, eine kleine Pause in der Ruhelosigkeit eines langen Tages. Niemand erzählt mir Kriegsgeschichten und auch die Rasierer dröhnen nicht mehr wie alte Rasenmäher. Ich lese gescheite Zeitungen und interessante Magazine; manchmal versinke ich in einen leichten Schlaf. Dann träume ich vom Duft einer wunderbaren Zigarre und der Prosecco prickelt erfrischend in meinem Glas. Wenn ich dann aufwache, zerplatzt der Traum und ich erhalte zum Abschied ein Sugus.
Seit es im Quartier so viele Coiffeure gibt, ist der Kaffeeumsatz im Café Schüümli massiv zurückgegangen. Das liess man sich natürlich nicht gefallen, und so kann man sich jetzt im Schüümli zum Macchiato gratis rasieren lassen.

Noch mehr Kolumnen finden Sie im neusten Buch von 
Hanspeter Gsell
Immer wieder Fernweh - Aus dem Logbuch eines Inselsammlers - erschienen im Verlag  BoD




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