Dienstag, März 13, 2018

Just in Time

Die Weinkarte war in feinstes Kalbsleder gebunden und ein güldener Bacchus versprach mir höchstes Trinkvergnügen. Hunderte von „sorgfältig ausgesuchten Tropfen“ warteten nur darauf, meine dürstende Kehle zu ent-zücken. Noch ahnte ich nichts vom Grauen der einbrechenden Nacht, entschied mich für einen leichten Roten und lief damit direkt in die gestellte Falle. „Leider ausverkauft!“
Als erfahrener Gast hatte ich natürlich bereits eine Alternative vorgesehen und so bestellte ich – immer noch lächelnd – den schweren Roten. Ich hätte es besser nicht getan! Inzwischen etwas vorsichtiger geworden, verlegte ich mich auf das Zufallsprinzip.
Mit geschlossenen Augen ertippte ich mir einen mittelschweren Roten. Der im Trunke ergraute Sommelier zog seine linke Augenbraue in die Höhe und erstarrte zur Sprechblase. Bevor auch nur eine einzige weitere Worthülse seine geschürzten Lippen verlassen konnte, ergab ich mich feierlich, warf sinnbildlich ein imaginäres Handtuch und überliess die weitere Auswahl dem befrackten Herrscher über tausend Weine.

Als ich mich umdrehte sah ich, wie sich im Fenster ein dunkler Schatten spiegelte. Gebückt, in Eile und mit Schlapphut, schlich sich eine sonderbare Gestalt durch den unordentlichen Vorgarten zum benachbarten Gasthof. Böses ahnend versteckte ich mich konspirativ unter den hängenden Zweigen einer Trauerweide und wartete ab. Da! Da war er wieder, der schwarze Schatten! Mit zwei Flaschen in der linken Hand turnte er über die Feuerleiter zurück in die Küche. Die Frackspitzen flatterten dabei lustig im Wind.



Noch immer herrscht der „Herr über tausend Weine“ über die sorgfältig ausgesuchten Tropfen. Von einem offensichtlich blinden Gastrotester hat er in der Zwischenzeit sogar noch ein paar zusätzliche Punkte erhalten. Womit nichts bewiesen sei.

 

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