(Volksstimme vom 14.2.2020)
Beharrlich
langsam
Vielleicht
erinnern sie sich an meine letzte Kolumne. Sie handelte von der Zeit an sich
und von einer Lebensweisheit der österreichischen Erzählerin Marie von
Ebner-Eschenbach: «Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in
der man kann.»
Philosophen
beschreiben die Zeit als ‘das Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit
kommend und zur Zukunft hinführend’. Über einen derartigen Satz mag ich schon
gar nicht nachdenken. Wieviel schöner ist doch eine Spielart der Zeit: die
Langsamkeit! Langsam zu sein, hat jedoch in unserer Gesellschaft einen eher
schlechten Ruf. Langsame Menschen leisten nichts und ruhen sich auf dem Rücken anderer
aus. Langsame Menschen, so die Meinung, schauen den anderen bei der Arbeit zu.
Soweit die Vorurteile.
Die
Menschen auf der kleinen Pazifikinsel Yap arbeiten langsam, sehr langsam. Sie
bewegen sich derart langsam, dass man ihnen – während sie laufen – die Schuhe
von den Füssen klauen könnte. Sie würden es nicht bemerken. Braucht in Europa
ein Zimmermädchen dreissig Minuten, um ein Hotelzimmer zu reinigen, so
benötigen in Yap zwei Menschen sechzig Minuten für die gleiche Aufgabe. Aber
nicht, weil sie faul sind, sondern weil sie weise sind.
«Die
Entdeckung der Langsamkeit» ist ein 1983 erschienener Roman des deutschen
Schriftstellers Sten Nadolny. Sein Hauptdarsteller ist der englische Kapitän
und Polarforscher John Franklin. Franklin hat wegen seiner Langsamkeit immer
wieder Schwierigkeiten, mit der Zeit, Schritt zu halten. Mit grosser
Beharrlichkeit wird er am Ende zum großen Entdecker.
Buddy
will nicht Entdecker werden. Er wüsste nicht einmal, was denn so ein
Polarforscher den ganzen lieben langen Tag tut. Buddy ist Gärtner in der
kleinen Hotelanlage und kommt jeden Tag zu spät. Obwohl er um 08.00 anfangen
sollte, er kommt nie vor 10.00 Uhr. Spricht ihn jemand darauf an, antwortet er:
«Meine Uhr ist stehengeblieben, meine Zeit ist unendlich geworden.» Vielleicht
aber wurde unser pazifischer Freund von Antoine de Saint-Exupéry inspiriert,
der seinen kleinen Prinzen sagen liess: «Du musst nur langsam genug gehen, um
immer in der Sonne zu bleiben.»
Moderne
Uhren können kaum mehr stehen bleiben. Sie werden mit Batterien betrieben,
ziehen sich automatisch auf oder werden regelmässig aufgeladen.
Ich
habe meine Uhr weggelegt und meinen Aufenthalt im Pazifik zeitlos und langsam
verbracht. Weder Zeitungen noch andere Druckerzeugnisse haben mich von der
Langsamkeit abgelenkt. Es gibt keine Radiostationen, es gibt keine TV-Sender.
Und somit auch keine Medienkrise. Weder werden Plaketten verkauft, noch wandern
seltsam gekleidete Menschen – widernatürlich trötend – durch die Stadt.
In
der lokalen Sprache existiert das Wort «Gleichberechtigung» nicht, Mieter gibt
es nicht. Staumeldungen braucht es nicht. Einen Windpark hat man längst. Wenn
auch nicht auf der Challhöchi, sondern auf dem Gebiet der Gemeinde Ruun’uw.
Gestern
gabs auf Yap eine Sonnenfinsternis. Niemand hat sich im Voraus dafür
interessiert. Auch Buddy nicht.
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