Nur Ludmilla nicht
Fast immer wird entweder äusserst
positiv, mehrheitlich positiv oder zumindest positiv- überrascht berichtet. Waren
die Erfahrungen eher negativ, verzichtet man auf eine Veröffentlichung. Ich
finde solche Entscheidungen sehr weise: Denn, wo gearbeitet wird, geschehen
Fehler; wo gekocht, serviert und Gastfreundschaft zelebriert wird, ebenso. Kein
Koch soll in die Pfanne gehauen werden, nur weil an diesem Tag einfach gar
nichts geschmeckt hat. Es könnte ja auch durchaus sein, dass der Kritiker mit dem
linken Bein zuerst aufgestanden ist und deshalb selbst einen schlechten Tag zu
verbuchen hat.
Allerdings müsste dieser Grundsatz
auch umgekehrt angewendet werden. Nur weil ein Abend aussergewöhnlich war,
sollte niemand in den Himmel gelobt werden. Es könnte ja
sein, dass der Kritiker eben den
Schweizer Buchpreis erhalten hat und ihm seine Dauerverlobte endlich die Ehe
versprochen hat.
In der Praxis heisst dies: Einmal
ist keinmal: Jeder bekommt eine zweite Chance.
Nur Ludmilla nicht.
Ich muss
gestehen, ich weiss nicht mehr, wie sie wirklich hiess. Aber «Ludmilla» passt
ganz gut. Es war ein düster-nebliger Abend in der Provinz. Nach einem
anstrengenden Tag suchten wir einen ruhigen Platz; ein netter Drink, ein Glas
Wein und ein erfrischendes Bier standen auf unserer Wunschliste. Ich verlangte
die Weinkarte und tippte auf einen Schweizer Weisswein.
«Nicht chaben»,
antwortete die Wirtin, die wie gesagt, möglicherweise Ludmilla hiess.
«Kein
Problem», entgegnete ich, «dann eben ein Glas Chardonnay.
«Nicht chaben.»
«Gut,
dann sagen sie mir doch einfach, was sie chaben.»
«Nein. Du
sage wasse wolle, ich mach’ so, oder so.» Bei «so» nickte Ludmilla, bei «oder
so» schüttelte sie den Kopf.
Nachdem
sie während einer halben Stunde den Kopf geschüttelte hatte, sagte sie
plötzlich: «Chabe Binogridscho.»
«Chabe?
Bringe!», antwortete ich und war ob meiner seltsamen Aussprache überrascht. Wo
um Himmelgottswillen waren wir hingeraten?
Nachdem
mir Ludmilla den Pinot grigio serviert hatte, warf sie sich in Pose und
verkündete stolz: «Cheute Abend ich singe!».
Ludmilla
bestieg die Bühne und testete die Mikrofone: «Test, Check, Quietsch.»
Hinter
den umfangreichen Bühnenaufbauten war sie kaum zu sehen, was ihr jedoch nicht
zum Nachteil gereichte. Denn Ludmilla war von der Natur etwas vernachlässigt
worden, oder aber, sie hatte die Fliehkräfte des eigenen Fleisches
unterschätzt.
«Begrisse
alle Menschen hier und jetzt ALLE singen!»
Sie
stimmte atemlos das gleichnamige Lied von Helene Fischer an.
«Und
jetzt alle!» Die Zuschauer reagierten sprachlos.
«Und
jetzt ALLE!», tönte es atemlos von der Bühne.
Ich schaute
mich um. Wir waren allein, atmeten aber meines Wissens noch.
«Und
jetzt ALLE!»
«Ja doch.
Wir gehen. ALLE!»
Ludmilla
bekommt keine zweite Chance.
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