Dieser
Text erschien unter der Überschrift «Mein Leben» in der VOLKSSTIMME. Die Kolumne war einem Teil dieses Lebens gewidmet: der Zeit.
Wenn die Zeit kommt
Es
regnet. Der Niederschlag eines ganzen Monates prasselt auf uns herab. Von wegen
Schleusen, die sich geöffnet haben sollen! Ich kann ihnen versichern, dass es
hier keinerlei Schleusen gibt! Es sind tosende Wassermassen, die sich über uns
ergiessen. Laut den aktuellen Daten des Flughafens von Yap, waren es in weniger
als zwölf Stunden eintausend Millimeter.
Noch
regnet es weiter. Und es ist an der Zeit, die erste Kolumne des neuen Jahres zu
schreiben. Die guten Wünsche haben sich erfüllt, die andern haben sich
beizeiten wieder verflüchtigt. Oder, wie es die grossartige, österreichische
Erzählerin Marie von Ebner-Eschenbach einmal formuliert hat:
«Wenn
die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.»
Dem
ist nichts dazuzufügen. Ausser vielleicht die Tatsache, dass Zeit, so wie wir
sie kennen, in manchen Ländern noch nicht entdeckt wurde.
Einmal
mehr sind wir der Kälte entflohen und verbringen einen Teil des Winters in Yap,
in Mikronesien. Und ich habe Zeit, über die Zeit nachzudenken.
Ob
ich sie hier, in der Mitte des unendlichen Pazifiks, finden werde? Kaum. Zeit
ist, wenn ein Boot ankommt, Zeit ist auch, wenn eine Kokosnuss von der Palme
fällt. Zeit ist, wenn der Flieger Verwandte, Freunde und Besucher auf die Insel
bringt.
Zeit
ist auch, wenn die Flut die Ebbe besiegt. «Gezeiten» nennt man diese Schlacht
der Urgewalten. Es sind die Wasserbewegungen der Ozeane, die infolge der
Gravitation des Mondes und der Sonne durch die zugehörigen Gezeitenkräfte
verursacht werden. Da der stärkere Einfluss vom Mond ausgeht, gibt es nicht in
24, sondern in knapp 25 Stunden zweimal Hochwasser und zweimal Niedrigwasser. Die
Gezeiten ändern sich somit täglich, sie eignen sich nicht zur Zeitmessung.
Deshalb rechnet man hier in Mikronesien eher in Vollmonden und Halbmonden als
in Monaten.
Eine
ganze Branche jedoch hat mit andauernden Zeitenänderungen zu kämpfen: Die
Fliegerei. Ich habe deren Problematik am eigenen Leib erfahren und zu einem
kleinen Rätsel verpackt:
Ein
Pilot in roten Socken fliegt von X Richtung Westen. Er erreicht sein Ziel übermorgen.
Ein anderer Pilot, er trägt grüne Socken, fliegt zur gleichen Zeit von X Richtung
Osten und landet vorgestern. Die Frage lautet: Welcher der beiden Piloten hat an
Weihnachten Broccoli gegessen?
Ich
stelle mir vor, dass auch im oberen Baselbiet ein derartiges Chaos aus Tagen
und Stunden herrscht.
Das
Stöppli, die Sissacher Traditionsbeiz, bleibt bekanntlich am Sonntag
geschlossen. Nehmen wir mal an, ein paar Meter weiter, inmitten der Sonnenkreuzung,
liege eine ominöse Datumsgrenze. Dort wäre deshalb erst Samstag, das Stöppli hätte
somit geöffnet. Und ich könnte noch schnell meinen Lottoschein vom Sonntag abgeben!
Vielleicht
aber bewahrheitet sich die Lebensweisheit von Frau Ebner doch noch:
«Wenn
die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.»